J.O. schaute zum wiederholten Male aus
dem Fenster des alten, gutbürgerlichen Hotels in der Innenstadt. Die dunkle
Wolke, die sichhartnäckig im Zenit des strahlenden Blaus ausbreitete, hellte
nicht auf, nein, sie an düsterer Drohung. Es sollte also heute sein – es musste
heute sein. An einem Tag, der die Heiterkeit des Lebens und den Fluss der Dinge
als Angelegenheit lenkbarer Leichtigkeit mit breitem Pinsel und in anmutigen
Tönen des Himmelblaus ans Firmament strich, konnte, wollte, ja durfte niemand
freiwillig den Pulsschlag zum Verebben bringen. Heute wies die ständig dunkler
werdende Wolke, regenschwangere Wolke auf eine unentrinnbare Prädestination hin
und eine Stimme, woher auch immer, rief ein gebieterisches „Jetzt“!
J.O. hatte Krebs, unheilbar, schmerzhaft,
unwürdig – ein Multiorganversagen war abzusehen, wiederum ein schmerzhaftes,
quälendes, die Seele zerrinnen lassendes Geschehen, das verzweifelt nach
Erleichterung flehte, ja schrie. Konnte J.O. diesem Aufschrei seines zweiten
Ichs, das ihm die Karzinome beigestellt hatten, widersetzen? Sollte er noch
einmal den Kampf gegen das Wuchern fehlgesteuerter Zellen und die kreisenden
Geier in seinen Träumen aufnehmen?
Nein, J.O. hatte noch einen kleinen Rest
Selbstliebe gerettet, er musste auf niemanden Rücksicht nehmen, Trauernde würde
er nicht zurücklassen – und Herr über seine Entscheidungen und Entschlüsse
wollte er bis zu letzten Atemzug bleiben. So ging er.
Die Stiege auf den Berg mit seinen vielen
Terrassen, von wo aus andere herrliche Stadtblicke einfangen konnten, war
steil. Sein Sinn stand nicht mehr nach Rundblicken. Es fiel ihm unsäglich
schwer, genug Atem aus den gepeinigten Lungen bereit zu stellen. Erste Tropfen
fielen, die Finger auf dem Handlauf des nasskalten Eisengeländers begannen
wieder zu stechen, eine Folge der Chemo –Therapien, die ihm fünf ganze Monate
geschenkt hatten und für die er unermesslich dankbar war. Diese Wochen waren
trotz der Ungewissheit und seiner Schwäche eine Gnadenspende wohlwollender
Puppenspieler, die die Fäden an denen er hing, schwingen ließen. Das
Marionettentheater war nun geschlossen.
Jetzt stand er hinter der Brüstung der
kleinen Terrasse. J.O. wollte keine Zeit mit Rückblicken und weiteren
Abwägungen verlieren. Wozu auch? Er kletterte über das Geländer und sprang.
Sein Körper wurde wenig später in einem
Innenhof gefunden. Seine Züge waren in einem Maße entspannt, wie sie nur bei
Menschen zu bemerken sind, die die Gnade einer Erlösung aus langer Pein erfahren
haben oder bei schlummernden Kindern, die das Süße in ihren Träumen belächeln.
Ich werde J. O. dennoch vermissen. Er ging aus freiem Antrieb. So oder so wäre es zu früh gewesen. Oder zu spät? Wer weiß das schon ....
AntwortenLöschenEs ist unsagbare Pein. Ich verurteile solche Menschen nicht, die sich daraus entlassen wollen. Ich schrieb es ja schon anderswo - ich wäre durchaus für Sterbehilfe für die Menschen, die einfach keinen anderen Ausweg mehr sehen und für die Leben kein Leben mehr ist.
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